28. Nikolauslauf der TG Neuss – Die Geburt des Dummschwitzers

Eigensaftsaunen im Schneegestöber

Samstag, 04.12.2010
5km „Nikolaus-Lauf“ der TG Neuss

Ich hatte noch vor dem Winter einen teuflischen Plan ausgetüftelt, um möglichst freiwillig gut trainiert über den Winter und vor allem durch die Weihnachtsfeiertage zu kommen.
Kernstück dieses Planes waren drei Wettkampf-Termine:

07.11. 10km Cross in Konz bei Trier
04.12. 5km leichter Cross in Neuss bei Düsseldorf
31.12. 8km Straße in Trier

Nun stand also der „Nikolauslauf der TG Neuss“ an. 5km leichter Cross im Stadion. So stand es in der Ausschreibung. Was habe ich mir denn darunter vorzustellen?
Haben die ein Fussballstadion gemietet und kleine Hindernisse wie Baumstämme oder dergleichen aufgebaut?
Hmm… Sogar Spikes sind erlaubt.
Gut, die habe ich schonmal nicht.
Aber ich hatte mir extra für diese drei Rennen eine Art „Neopren-Shirt“ von Puma zugelegt.
Mit diesem Teil sah ich zwar ein wenig aus wie eine Presswurst im eigenen Darm, aber Laufen bei Temperaturen von -5°C war ohne Probleme möglich.

So schmiss ich dann leicht gehetzt meine Siebensachen in die Sporttasche, doppelcheckte nochmal alles und fuhr gut 2 Stunden vor Rennbeginn gen Neuss.
Allein diese Tatsache lenkte mich mehr ab, als mir eigentlich lieb war:
Denn zum Einen lag besagtes „Stadion“ nur einen Steinwurf von jenem Krankenhaus entfernt, in welchem ich 4 Monate zuvor nach meinem Rennradunfall mühsam wieder zusammengenäht werden musste.
Aber zum Anderen -und das beschäftigte mich viel mehr- passierte ich auf dem Weg dorthin den Stadtteil in welchem zuletzt ebenjene Freundin lebte, die mir im Spätsommer 2008 versucht hatte das Laufen schmackhaft zu machen – und im Herbst 2010 tragisch ums Leben kam…

Trotz Schneegestöber und schlechter Sicht verlief die Fahrt problemlos und auch ein Parkplatz in Stadionnähe war schnell gefunden.
Die Sporttasche umgehängt und einfach den anderen Sporttaschenträgern vor mir folgen. Die hielten Zielstrebig auf eine Sporthalle zu, traten ein, nickten einem älteren Mann hinter einem Tresen zu und erklommen eine Treppe.
Ah sehr gut: Die Sporthalle wurde also zur „Massenumkleide und Aufenthaltsraum“ umfunktioniert. Das hatte ich ja schon beim Nachtlauf in Zons so erlebt. Gute Idee, erst recht bei diesem Wetter.
So trat auch ich zielstrebig ein, nickte ebenfalls dem Tresen-Mann zu, huschte die Treppe hinauf und… es befand sich kein einziger Läufer auf den Rängen, oder dem Spielfeld.
Stattdessen fand hier gerade ein Hallen-Hockeyspiel statt und ich hatte mich einigen Auswechselspielern, oder Gott-weiß-wem angeschlossen und war daher auch vom Kassenmann nicht behelligt worden.
Auffällig unauffällig machte ich auf dem Absatz kehrt und trollte mich wieder ins Freie.
Und wo war jetzt ‚mein‘ Stadion?
Hmm… einfach mal drumherum gehen, soo riesig wird die Sportanlage schon nicht sein.
Da kamen mir auch schon 4 junge, drahtige Kerls mit Sportschuhen und Trainingsanzügen entgegen.
Sie unterhielten sich lautstark darüber, dass es ja jetzt gleich losgehen würde und dass die letzten Trainingseinheiten sehr vielversprechend verlaufen sind.
Dann schließe ich mich mal dieser Gruppe an.
Und tatsächlich: Sie betraten ein anderes Gebäude durch eine schmale Tür. So durchquerten wir einige enge Korridore und endlich stand ich in einer Umlkleidekabine.
Vor mir knapp ein Dutzend junger Männer, alle im selben Sportdress und einige kramten gerade Handbälle aus ihren Sporttaschen.
Alle Augen richteten sich fragend auf mich.
„Oh, sorry… falsche Sportart“, stammelte ich und suchte abermals das Weite.
Hockey, Handball… Neuss ist aber ein sportliches Fleckchen Erde, soviel steht fest.
Hinter der Halle eröffnete sich mir schließlich ein zugeschneiter, verwaister Sportplatz und auf dem angrenzenden Weg tummelten sich viele, viele sportlich gekleidete Menschen mit auffällig klobigen Armbanduhren.
Bingo!

Ich folgte den wegweisenden DIN A4-Zettelchen mit der Aufschrift „Umkleiden“ und fand mich schließlich in einem circa 5m² ‚großem‘ Raum, vollgestopft mit 3 Paar Bänken, einer Wand mit Schwimmbad-Schließschränken und gefühlt 40 Mann, die alle versuchen sich in Laufsachen zu zwängen.
Aber warm war es!
Naja, Kunststück. Die Fenster ließen sich nicht öffnen…
Schließlich ergatterte ich ein kleines Fleckchen Erde und begann mich umzuziehen.
Kennt ihr dieses Gefühl, diesen kurzen Blitz, der euch trifft, wenn man nicht nur merkt, dass man etwas extrem wichtiges Utensil vergessen habt, sondern plötzlich auch genau weiß wo es sich gerade befindet?
So sah ich in meiner Tasche nebst den Duschsachen nur die Schuhe, Lauftights und das Kopftuch.
Vor meinem geistigen Auge tauchte zusätzlich das Neopren-Laufshirt auf.
Es lag warm und trocken auf meiner Couch.
Damn it!
Ok, was habe für Alternativen?
Ähm… ich kann in meinem einfachen Baumwoll-Tshirt laufen, oder aber im Pulli.
Beides bei -3°C nicht empfehlendswert.
Ach Mist!
Die Zeit reichte nichtmal ansatzweise, um das Shirt von zu Hause zu holen…
Also den Start absagen?
Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, aber dann gehe ich wenigstens ins Rennbüro und melde mich ordentlich ab. Einfach nicht erscheinen ist nicht mein Stil.
Die Frau im Wettkampfbüro sortierte gerade knall-orangene Werbe-Tshirts in Kartons ein und blickte mich fragend an.
Wie von weit weg höre ich mich selbst sagen: „Ich hätte gerne eines der Shirts in Größe L … und meine Startnummer bitte, der Name ist…“

Beides wurde mir gegen 10Euro ausgehändigt.
Binnen Nanosekunden hatte ich einen neuen Plan und Entschluss gefasst und so verkrümelte ich mich zurück in mein Auto:

Ich würde meines und das neu erstandene Baumwollshirt übereinander anziehen. Darüber dann meine Windstopper Laufjacke, an den Beinen nur die kurze Lauftights und für nach dem Rennen blieb mir somit der Pulli und die lange Hose.
Super Plan.
Naja eigentlich ein scheiß Plan, aber besser gings nunmal nicht.

Als ich mich warmlief unterschied ich mich äußerlich noch nicht von den anderen Läufern. Ich war halt der Einzige, der die Startnummer auf der Jacke trug. Alle anderen hatten ihre Nummer darunter.
Schon beim Warmlaufen trieb es mir dank der 2 Shirts den Schweiß auf die Stirn. Oh man, diese 5000m werden mein Ende bedeuten.
Lungenentzündung.
Mindestens!

In buchstäblich letzter Minute vor dem Start entschied ich mich um:
Das bereits jetzt durchgeschwitzte schwarze Shirt musste weg!
Also entblätterte ich mich mitten im Schnee obenrum komplett, zog dann nur das knallorangene Werbeshirt an, darüber die Laufjacke… ja und was jetzt mit meinem schwarzen Shirt? Zum Auto und zurück würde ich es nicht schaffen!
Der Rennleiter bat alle männlichen 5000m-Starter sich „Hinter der weißen Linie aufzustellen“.
Haha, ein Witzbold! Hier liegen 25cm Neuschnee rum…
Hastig zog ich also mein schwarzes Shirt über die Jacke und legte meine Startnummer an.
Rückenaufdruck des Shirts war übrigens: Nicht stürzen!
So sputete ich mich zur Startlinie und begutachtete noch kurz die anderen Läufer: Allesamt durchtrainierte Kerls, nur etwas abseits stand ein etwas untrainierterer junger Mann in einem grauen Jogging-Anzug Marke Kaufhof-Wühltheke.
Gut, Letzter würde ich also nicht werden, trotz meines Ausrüstungs-Handicaps.
Der Startschuss fiel, das Feld setzte sich rasch in Bewegung und als es nach gut 300m nach links abbog hörte ich von hinten (vermutlich) meinen Baumwoll-Leidensgenossen sagen: „War ja klar. Erste Kurve und schon wieder Letzter…“
Wenigstens hatte er seinen Humor nicht verloren. Den würde er auch noch brauchen, denn allein ich würde ihn 2mal überrunden – auf einem 5-Runden-Rennen.

Das Laufen auf frisch gefallenen Schnee ist eine Sache für sich.
Kraftraubender, ungewohnter, langsamer.
Aber dennoch konnte ich ganz gut mit der Spikes-Fraktion mithalten.
Wie gewohnt war ich von sehr weit hinten im Feld gestartet.
Ich mag es einfach nicht überholt zu werden, ich überhole lieber selber.
So auch jetzt.
In der ersten der 5 1000m-Runden ‚kassierte‘ ich direkt eine handvoll Konkurrenten.
Das Ende einer jeden Runde marktiere übrigens eine 90° Linkskurve, die direkt in ein 5m kurzes, aber mit 50° Steigung wirklich kraftraubendes Steilstück überging.
DAS saugt richtig Kraft und bringt einen überdies auch voll aus dem Lauf- und Atemrythmus!
In der zweiten Runde überholte ich immerhin noch 2 oder 3.
In der Dritten hing ich dann hinter einem Läufer, der von 2 Mädels und seinem Trainer frenetisch als „Martin“ angefeuert wurde.
Ich hing ihm dicht auf den Fersen, ließ einfach nicht locker und zum Ende der Runde überholte ich ihn schließlich sogar.
Aber so richtig absetzen konnte ich mich danach nicht mehr.
Dieser Martin hing mir dicht auf den Fersen. Seine Freunde feuerten ihn mehr und mehr an.
Und so kam es, dass er mich knapp 900m später wieder überholte.
Das war das erste Mal, dass ich je überholt wurde!
Ich versuchte mitzuhalten, aber im ersten Drittel der letzten Runde musste ich Martin ziehen lassen.
Und nicht nur das: Ein weiterer Läufer überholte mich.
Und was für einer.
Während Martin wenigstens noch jung und atheltisch aussah, war dieser Typ ein abgebrochener Meter, der selbst schon aus dem letzten Loch pfiff.
So gehts ja nun nicht!
Wir erreichten eine Haarnadelkurze, danach folgten knapp 5 Meter vereiste Piste und danach wollte ich meinen Angriff starten.
Es würden noch 300, vielleicht 400 Meter bis zum Ziel sein.
Regel Nummer 1 beim Überholen während eines Rennens:
Wenn du dich entschließt jemanden zu überholen, dann musst du dabei so schnell sein und / oder souverän wirken, dass dein Gegner nichtmal an Gegenwehr denkt.
Kurz: Du darfst ihn nicht nur überholen, du musst ihn vernichten!

Und so ähnlich lief es dann auch ab.
Mit einem laut pfeifenden Geräusch stieß ich die Luft aus meinem Lungen, pumpte sie mit frischer, kalter Luft voll und verdoppelte beinahe mein Tempo.
Martins Trainer sah mit großen Augen zu.
Seinen Schützling würde ich nicht mehr einholen können, aber ich lief so als würde ich es versuchen.
Wie von der Tarantel gestochen, laut schnaufend und wild mit den Armen arbeitend stob ich die langgestreckte Rechtskurve auf das „Zielzelt“ zu.
Keine Ahnung, ob mein direkter Gegner mithielt, aber ich tat so, als würde er.
Nur keine Schwäche zeigen, nicht zurück blicken!
Ich rauschte in das Zelt ein.
Wild gestikulierten dort einige Personen, als ich keinerlei Anstalten machte das Tempo zu verringern.
Ich bin halt Teamsoft-Gatter gewohnt, oder Chip-Matten.
Wie sollte ich denn ahnen, dass die den Barcode meiner Startnummer einscannen wollen?
In die fragenden Gesichter mit den ungläubig aufgerissenen Augen brachte ich zwischen zwei Atemstößen so etwas wie „Das ist der pure Rausch“ hervor, nahm meinen Weckmann in Empfang und sackte neben dem Zelt erstmal in den Schnee.
Vor lauter Aufregung vergaß ich sogar meine nagelneue Garmin-Laufuhr anzuhalten…
Der Schweiß lief mir in Sturzbächen den Rücken hinunter, mein Gesicht glühte – aber ich hatte es geschafft.
Raus aus den Klamotten, ich musste mich schnell abbrausen, abtrocknen und umziehen.
Gesagt, getan.
Als ich danach in langer Laufhose und Pulli zum Getränkestand kam, musste ich feststellen, dass bis auf ganz wenige Personen bereits alle fort waren.
Ich bekam von der netten Getränkefrau noch einen heißen Zitronentee „aufs Haus“, da die Kasse bereits abgebaut war und versprach ihr das Geld nächstes Jahr beim Lauf zu geben.
Im Hintergrund wurde ein selbstgeschreinertes Siegertreppchen aufgebaut die ‚feierliche‘ Siegerehrung began.
Ich lehnte etwas abseits an ein Geländer und sah dem lustigen Treiben zu.
Das Ganze hatte in etwa Schul-Tombola-Charakter, und dass der ‚Moderator‘ in ein Mikrofon sprach, welches an eine Art tragbarer Kassettenrekorder angeschlossen war, verstärkte diesen Eindruck noch mehr.
Dennoch war es eine Siegerehrung und bisher hatte ich noch jedem ‚Konkurrenten‘ die gebührende Anerkennung für die erbrachte Leistung gezollt.
So wurden zuerst die ersten drei des Gesamtklassements geehrt, danach ging es an die verschiedenen Alterklassen.
Mein Becher war längst leergetrunken, das Publikum hatte sich mittlerweile auf knapp 10 Personen reduziert und auch ich wollte gerade gehen, als…
„Und nun darf ich Karsten Sxxxxx herbitten. Er ist mit 22:05 erster der Klasse M30…“
Mir fiel der leere Becher aus der Hand.
„Karsten, bist du noch da?“
So betrat ich zum ersten Mal die oberste Stufe eines Siegerpodestes!
Unter dem ‚Applaus‘ der verbleibenden 8 Personen (Moderator und mich ausgenommen) wurde mir die Urkunde sowie ein ziemlich hochwertig wirkender Reisetrolli überreicht.
Wie geil ist das denn?!
Zweitplatzierter wurde ein Triathlet, mit dem ich mich danach noch kurz unterhielt. Seine Frau, ebenfalls Triatheltin, stieß zu uns.
Wir stellten fest, dass ich etwas mehr als eine Minute Vorsprung auf ihn hatte.
„Aber eigentlich ist das Radfahren meine Hauptdiszilpin“ sagte er mit charmanten Grinsen und dicken, englischen Akzent.

Trotz der widrigen Bodenbeschaffenheit und obwohl ich (zumindest gegen Ende des Rennens) knapp 3kg Ballast in Form von Schweiß in meiner „Baumwoll-Wettkampf-Kleidung“ mitschleppte hatte ich ein ganz passables Rennen gelaufen.
5km in 22:05 liegt gut im Schnitt meiner damaligen 10km Bestzeit von 44:47min.

Mein Plan halbwegs trainiert durch den Winter zu kommen schien also aufzugehen – und das obwohl ich mir selbst so dumm und unnötig durch die schweißtriefenden Shirts eine bessere Zeit verbaut hatte.

An diesem Abend kam mir zum ersten Mal ein Wortkonstrukt in den Sinn, welches 4 Wochen später eine große Rolle spielen sollte:

Dummschwitzer

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