„Auf Jungs, heute müssen wir wieder ein bisschen sterben!“
– Emil ‚Die Lokomotive‘ Zátopek, Läuferlegende
Tag: Sonntag, 27. Februar, 2011
Zeit: 11:10 Uhr
Ort: Sportpark, Leverkusen
Hier und Heute findet ein international bekanntes 10km-Rennen statt.
Das älteste Rennen seit Menschengedenken.
Der härteste Lauf, den ein Sportler zu bestehen hat.
Denn der Gegner ist unerbittlich und gnadenlos:
Die Uhr.
*imaginiert das Geräusch einer Nadel, die über eine Schallplatte gezogen wird*
Aber da mein ‚Ziel‘ für heute nur eine Zeit um die 42 Minuten sein wird, brauchen wir eigentich gar kein so großes Tamm Tamm darum zu machen.
Eigentlich wird der heutige Lauf nur stattfinden, um mir ein wenig positiven Rückenwind für den schnellen Volkslauf am 13.3. ‚Rund ums Bayerkreuz‘ zu geben. Den Elitelauf habe ich für diese Saison ad acta gelegt.
Um 9 Uhr hüpfte ich also recht motiviert, aber auch nicht übermäßig begeistert aus den Federn. Im Bad schallte mir zur Begrüßung erstmal AC/DC’s Thunderstruck entgegen.
Rockland Radio: So muss ein Tag beginnen!
Die Waage zeigte ein NDG (Netto-Dummschwitzergewicht) von 78.8kg an.
Damit kann man arbeiten. Also ab in die Küche und genüsslich die Birne sowie einen HighCarb-Riegel mit Coffein verfrühstücken.
Ein Blick auf die Wetterstation verkündete 7°C, 80% rel. Luftfeuchte.
Der Blick aus dem Fenster verriet außerdem: Böhiger Wind, starke Regenschauer.
Naja, ich wollte ja eine möglichst realistische Rennsimulation, also durfte ich mich jetzt nicht beschweren!
Die Wahl der Klamotten war aber trotzdem sehr schwer:
Temperatur, Wind, Regen – nichts fiel wirklich zu meinen Gunsten aus.
Dummschwitzer-Schwester stellte sich dankenswerter Weise als Sherpa zur Verfügung, sodass ich zwar in langer Hose und Jacke warmlaufen konnte, aber danach recht frei in der Kleiderwahl war.
Der Regen hatte fast ganz aufgehört, der starke Wind war geblieben.
Letztlich entschied ich mich also für die Tights, darüber die Shorts, mein normales Trainingsshirt, und die Jacke als Windbrecher.
Der Mp3-Player war ebenfalls mit von der Partie. Als Motivator für etwaige, kleine Durchhänger.
Punkt 11:10 Uhr hatte ich die Warmlaufphase beendet und drückte den Start-Knopf meiner Uhr.
Vor mir lagen 5 Runden zu je 2 Kilometern.
Ich lief im Uhrzeigersinn, vom Bahndamm aus startend los.
Wie ich nach knapp 700m merkte, erheblich zu schnell.
Ein wenig drosseln, schnell sein ist ja schön und gut – aber man muss auch ankommen!
Trotzdem wurde es noch eine 3:37.
Herrjee!
Wo ist denn mein Gefühl geblieben!?
Das ist zu schnell, vieeel zu schnell!
Meine absolute Höchstgeschwindigkeit liegt bei 3:20.
Die erste halbe Runde war also definitiv ein taktisches Debakel.
So überquerte ich die Brücke und bog auf der Gegenseite wieder auf den Damm ein.
Direkt blies mir der Wind scharf ins Gesicht.
Oh Boy, der Puls war aufgrund des ‚Superintervalles‘ eben ja ohnehin noch im roten Bereich und jetzt also Gegenwind.
Runter vom Gas, sonst wird dieser Lauf hier kein gutes Ende nehmen!
42 Minuten Zielzeit, das sind 4:12 pro Kilometer.
Alle Zeit der Welt also, nur nichts überstürzen.
Mühsam arbeitete ich mich durch den Gegenwind.
Was für ein anstrengender Kilometer.
Aber ich hatte jetzt so etwas wie meinen ‚flow‘ gefunden.
Mein Körper war im Rythmus, ich hatte jetzt genau das Tempo gefunden, das ich über 10km halten kann.
Kurz vor Ende dieses zweiten Kilometers -und somit kurz vor dem Ende der ersten Runde- offenbarte sich die größte Tücke von Rundkursen:
Man kennt jetzt den Kurs, die einfachen und die schweren Passagen. Und außerdem weiß man wieviele Runden man noch laufen muss.
Das macht es dem Blei-Teufelchen auf der Schulter natürlich extrem einfach, es braucht nicht einmal nen Rechenschiener.
Mit einem *Plöpp* erschien es und fing auch direkt an:
„Die erste Runde ist rum.
Eins von Fünf.
Das sind ja gerade mal 20%, ein Fünftel der Gesamtstrecke.
Das heißt du musst noch ganze viermal gegen den Wind laufen…“
Das Doofe ist halt nur, dass es leider kein Engelchen auf der anderen Schulter gibt.
Keine kleine Motivations-Mocki, die mich anfeuert, dem Teufel die Meinung sagt und mit ihm um meine arme, schwitzende Läuferseele kämpft.
Nein, da muss ich ganz allein gegenhalten. So ist das Spiel.
Auftrieb bekam ich von Garmin, meinem treuen aber unparteiischen Begleiter.
Er verkündete laut piepsend eine 3:58min/km als zweite Pace.
Ja sauber!
Griesgrämig *verplöppte* sich das Teufelchen und lies mich in Ruhe – Vorerst.
Der 3. Kilometer verlief wieder etwas erholsamer, dank Rückenwind.
Was ich an Kraft auf den ‚geraden‘ Kilometern mehr drauflegen musste, bekam ich in Form von Rückenwind körperlich und psychologisch doppelt zurück.
Mit einem lauten *Plöpp* erschien das Teufelchen, erspäte die 3:53 auf der Pace-Anzeige – und verschwand mit einem viel leiseren *Plöpp* auch direkt wieder.
Recht so!
Aber jetzt heißt es wieder: Gegenwind!
Und diesmal gepaart mit leichten Regenschauern.
Mia madre, das ist Teufelswerk…
Ich nahm ein wenig mehr Kraft aus dem Tritt, lieber einen Kilometer ‚opfern‘, als ihn gewinnen und alle Reserven zu verlieren.
Mühsam erreichte ich dennoch eine 4:06.
So langsam schwante mir etwas: Alter, du bist richtig flott unterwegs!
Es plöppte und ein kleines Menneken mit Hörnern und ohne Haare erschien auf meine Schulter.
„Hallo, opfere deinen 10km-Lauf und ich erfülle dir 3 Wünsche! Du kannst wählen zwischen:
– Einer astreinen 5km-Bestzeit
– Einem ‚Têtê á têtê‘ mit dem Mocki-Engelchen
– oooder…“
Ey wieso oder?! Hast du nicht gesagt, du erfüllst mir drei Wünsche?
„Ja weißt du, das ist kompliziert und knifflig…“
Verplöpp dich, aber flott!
*Plöpp*
Aber eines musste ich dem Teufelchen lassen:
Es war wirklich nicht sehr wahrscheinlich, dass ich dieses Tempo in meiner Verfassung über ganze 10km halten kann.
Wieso nicht völlig verausgaben und erhobenen Hauptes eine astreine, neue Trainingsbestzeit über 5km aufstellen?
Danach gepflegt kollabieren und alle sind zufrieden.
Die Idee begann mir zu gefallen – aber hey: Wollte ich nicht einen 10km-Wettkampftest hier hinlegen?
5 sind aber nur die Hälfte von 10!
Also mit Bedacht weiter, nicht zu viel Gas geben. Das Ding ziehe ich jetzt durch!
Die 5 Kilometermarke passierte ich nach 19 Minuten, 28 Sekunden.
Der Baum ist schonmal gefällt.
Sowas gibt Auftrieb, aber fragt nicht wie. Vor allem, da ich mich noch in ziemlich guter Verfassung befand!
Sollte es denn wirklich…?
Kilometer 6 war wieder ein Gegenwind-Kilometer.
Der Regen hatte zum Glück wieder ausgesetzt.
Was denn los Teufelchen?
Schon alle Register gezogen?
Die Kilometer 6, 7, 8 und 9 forderten mir wirklich alles ab.
Körperlich und mental.
Die Zunge klebte wie ein Stück trockenes Fleisch am Gaumen. Und nur der ‚Psychologische Trick‘, dass durch die blutverdünnende Wirkung der Aspirin das unverkennbare Flüssigkeitsdefizit kaum Auswirkungen auf den Blutfluss haben sollte, hielt mich zeitweise am Laufen.
Mein Puls pochte, die Beine brannten so sehr, dass es zischte sobald ich eine Pfütze durchlief.
Jedoch waren diese 4 Kilometer alle irgendwo zwischen 4:02 und 4:09.
Nach 8000m zeigte die Uhr 31:39min an.
Wow wow wow!
Kurz überschlug ich die Zahlen im Kopf. Das könnte gut werden.
Allerdings: Jetzt hatte ich 1000m Rückenwind und ausgerechnet der komplette letzte Kilometer wäre dann Gegenwind.
Das ist nicht gut.
Also kurz nachgerechnet: Eine Runde ist etwas länger als 2km. Nämlich ziemlich genau 2.1km.
Nach 4 Runden bringt das einen Versatz von etwas mehr als 400m zu meinen Gunsten.
Unterwegs gab es eine kleine Fussgängerbrücke. Eine kleine Runde vom Bahndamm, wo ich mich gleich wieder befinden würde, zur kleinen Brücke und über sie wieder zurück zum Bahndamm waren ganz genau 400m.
Also wie wäre es, wenn ich jetzt eine kleine 400m Runde einlegte?
Dadurch würde ich 400m Gegenwind in 400m Rückenwind umtauschen.
Gut, zum Preis von einer zusätzlichen Wende, sprich einmal zusätzlich: Tempo rausnehmen, 90° nach rechts über die schmale Brücke, wieder 90° nach rechts zurück auf den Damm.
Das kostet auch etwas Zeit, aber der psychologische Rückenwindfaktor gleicht das mehr als aus!
Gesagt, getan.
Ich bin eher der Typ, der versucht den Tag nicht vor dem Abend zu loben. Aber als ich bei 8.5km die Zwischenzeit checkte wurde mir eines klar:
Es könnte tatsächlich klappen! Nur nicht schlapp machen jetzt!
Mein Körper probte den Aufstand. Langsam aber sicher kroch eine lähmende Kraftlosigkeit meine Beine empor. Dieses Gefühl der kurzzeitigen, völligen Verausgabung kannte ich ja bereits von den Intervall-Läufen nur zu gut.
Aber genau die halfen mir jetzt
8.5km
Fehlen noch 1.5km, das sind ein 400m Intervall über die mittlere Brücke und danach ein gediegener 1000m-Intervall mit Rückenwind plus dem 100m-Sprint zum Ende.
Pille Palle!
Das habe ich doch alles schon so gemacht, no big deal!
Einfach nur die Trabpausen dazwischen weglassen und dann ist der Spuk hier in wenigen Minuten vorbei.
Kilometer 9 beendete ich nach ziemlich genau 36 Minuten.
Das wird, das wird!
1000m und noch 4 Minuten Zeit.
Jetzt nicht schlapp machen.
Zähne zusammen beißen und durchhalten jetzt.
Dank meiner spontanen Umplanung habe ich den ganzen Kilometer lang Rückenwind!
Das Ding schaukelst du jetzt nach Hause, das lässt du dir jetzt gefälligst nicht mehr nehmen!
Ich trat an, wie ich es selbst nicht mehr erwartet hätte.
Laut rasselte mein Atem, die Beine flogen etwas unsicher unter mir vor und zurück.
Egal, hauptsache sie bringen mich noch die letzten 900m bis zum Ziel.
Immer häufiger blickte ich auf das Handgelenk, als würde ich damit die Zeit verlangsamen, oder die Strecke beschleunigen.
9.35km – 650m noch.
Meine Gedanken schweiften ab.
Abermals blickte ich auf die Uhr.
9.60km, 38min irgendwas.
Schnell überschlug ich: knapp 90 Sekunden Zeit für 400m
Mein schnellster je gelaufener 400m Intervall lag bei was?
82 Sekunden?
Nein, nein, nein!
Verdammt nochmal, was ist das!?
Bitte nicht!
Ich gab Vollgas.
Lieber um eine satte Minute zu langsam, als um wenige Sekunden.
Mit einer 41:00min würde ich ‚dank‘ frisch abgeklungener Erkältung gut leben können.
Aber eine 40:01min?
Das wäre ein Schlag ins Gesicht!
9.70km
Verzweifelt hielt ich das Tempo.
Kämpfte und verbiss mich, wie seit meiner aktiven Fechtzeit nicht mehr.
Scheiß auf Atmung, Scheiß auf Laufstil.
Diese 400m muss ich jetzt einfach so schnell laufen wie noch nie!
9.80km
Ich muss. Einfach. Noch. Ein. Wenig…
Durchhalten!
9.90km
39 Minuten habe ich mich abgerackert und jetzt auf dem letzten, verdammten Kilometer werde ich nicht alles verlieren!
9.98km
Komm schon!
9.99km
Pieeeps doch eeendlich…
Der Garmin piepste erlösend, und beinahe auf der Stelle lief ich mit wenigen, holpernden Schritten aus und drückte auf den Stopp-Knopf.
Aus.
Vorbei.
Keuchend beugte ich mich vornüber, stütze meine Hände auf die Knie ab und holte tief Luft, während mein Puls sich langsam wieder erholte.
Schade, dass ich den Pulsgurt nicht angelegt hatte:
Bei diesem Lauf wäre mit Sicherheit ein neue maxHF-Wert fällig geworden.
Langsam wanderte mein Blick auf mein Handgelenk.
Noch langsamer drehte den Arm um 180°, um das Display auf der Unterseite sehen zu können:

Ich hatte es geschafft!
Welch‘ ein Teufelsritt!
Was für ein Glücksmoment!
Langsam trabte ich zurück zur Dummschwitzer-Schwester, die am Bahndamm wartete.
Wahrscheinlich hatte sie meine kleine Runde über die Mittelbrücke überrascht.
Bereits in Sichtweite hob ich den senkrecht aufgestellten Daumen als unverkennbares Zeichen dieses Triumphes.
Sofort wurde mir vom besten Sherpa der Welt die lange Hose und eine trockene Mütze gereicht, die ich auch sofort gegen das völlig durchnässte Kopftuch eintauschte.
So trotteten wir wieder gen Heimat.
Jetzt war ich ein richtiger, schneller Läufer.
Die magische Schallmauer von 40 Minuten war durchbrochen!
Zu Hause angekommen holte ich das versäumte Dehnen vorsichtig, aber gründlich nach und stellte mich abermals auf die Waage. Wann hat man schonmal die Gelegenheit sich direkt vor und nach einem ‚ernsthaften‘ Rennen zu wiegen?
Das Ergebnis beeindruckte mich:
77.4kg
Ich hatte demnach auf den 10km gut 1.5 kg Flüssigkeit verloren.
Aber dieses Defizit würde ich noch heute wieder ausgleichen.
Zuerst mit Tee, dann ein Eiweiß-Shake und heute Abend beim großen, chinesischen Buffet würde ich mir ein alkoholfreies Pils gönnen.
…vielleicht sogar ein Zweites!
Hier nochmal die offiziellen Rundenzeiten und Ergebnisse im Überblick:
Km --- Pace --------- Zeit
01 --- 3:37min/km --- 03:37min
02 --- 3:58min/km --- 07:35min
03 --- 3:53min/km --- 11:28min
04 --- 4:06min/km --- 15:34min
05 --- 3:55min/km --- 19:28min (Neue 5km TBZ!)
06 --- 4:05min/km --- 23:34min
07 --- 4:02min/km --- 27:36min
08 --- 4:03min/km --- 31:39min
09 --- 4:09min/km --- 35:48min
10 --- 3:49min/km --- 39:37min (Neue 10km TBZ!)
10.01- 3:11min/km --- 39:55min
39 Minuten, 37 Sekunden.
Unglaublich!
Ich hatte wirklich kurz überlegt meine Schwester ein Erinnerungsbild von mir im Renn-Dress schießen zu lassen.
Aber der Wind war jetzt wirklich sehr garstig auf dem Damm.
Außerdem soll es ja auch noch eine kleine Überraschung bleiben.
Jedoch… ein wenig ‚Spinksen‘ ist zur Feier des Tages erlaubt!

Wer wirklich wissen will, wie das komplette, offizielle „Miep!Miep!“-Trikot aussieht… tja der muss mich wohl auf dem ein oder anderen Rennen anfeuern kommen *zwinker*


