Wettlauf gegen die Zeit

Oft ist die Rede von „Weißen Sportarten“.
Tennis oder Fechten zum Beispiel.
Aber auch das Laufen wird von vielen als eine sogenannte „Saubere Sportart“ angesehen und wer selbst schonmal gelaufen ist, speziell Langstrecke, der wird dies garantiert bestätigen.
… und sich heimlich seinen eigenen Teil dazu denken.

Denn beim Laufen wird man recht deutlich mit verschiedenen (Dys-)Funktionen des eigenen Körpers konfrontiert.
Nur die Wenigsten sind angenehm oder gar erwünscht.
Die Mehrheit ist eher peinlicher Natur.

Alle haben sie aber eines gemeinsam:
Sie ereilen uns fern der Heimat – und in aller Öffentlichkeit.

Sonntag, 10. Juli 2011

Den Samstag hatte ich damit verbracht einen Teil meiner Wohnung zu verschönern. Eine Aufgabe, die komischerweise erstmal die gesamte Wohnung in eine Art Ursuppe verwandelte.
Nach und nach stellte sich dann auch der veranschlagte Zeitplan als zu optimistisch heraus.
Zum Essen blieb bis auf eine Schüssel Müsli mit Schoki-Eiweiß-Pulver auch kaum Zeit, denn schließlich war um 18Uhr Anstoß zwischen England und Frankreich im leverkusener Stadion und danach ging es direkt weiter zu André zum Deutschlandspiel.
Da gab es dann noch eine Buddel Bit Bleifrei und kaum war Deutschland gegen Japan spektakulär ausgeschieden, trollte ich mich auch bereits in meine (noch immer) verunstaltete Unterkunft.
Schnell die Laufsachen übergeworfen, Pulsuhr programmiert, Wadenblinklicht und Frontscheinwerfer… Wo sind die denn jetzt hin?!?

So wurde es also kurz nach Mitternacht, sprich Sonntag, bis ich endlich den ‚Samstagmorgenlauf‘ angehen konnte.
Vorgenommen hatte ich mir 10 bis 15km in normalem Tempo.
Die Temperatur war sehr angenehm, die Strassen wie leergefegt, einzig an der Rheinallee parkten ungewohnt viele Autos. Selbst am Rheinufer waren kaum Jugendliche anzutreffen.
Über mir hingen dicke Wolken tief und schwer am Himmel, eingetaucht in eine surreale Lichtmischung aus entfernten Blitzen und den Scheinwerfern des nahen Bayerkwerkes.
Der Wind böhte auf und ebbte ab, wann und wie es ihm gerade passte.
Nach gut 2km betrat ich die Autobahnbrücke A1 und gab wie gewohnt Gas, denn diese Brücke ist der Stein und Stahlgewordene Kotzintervall:
Etwas über 1000m lang, Schnurgerade, zu den Enden abfallend und immer im Gegenwind – egal von wo man kommt.
Dazu nachts beleuchtet, im Winter gestreut, garantiert hochwasserfest und direkt vor meiner Haustür.
Perfekte Läuferspielwiese!
Hinter mir dröhnte ein Mofa heran.
Der Fussgängerweg einer Autobahnbrücke ist naturgemäß recht schmal gehalten. Da muss man schon zusammenrücken, wenn man als Fussgänger nur einen anderen Fussgänger überholt. Ich wich also nach links aus, so gut es ging.
Zentimeter für Zentimeter schob sich das Mofa rechts neben mir in mein Blickfeld.
Meine linke Schulter und der Arm hingen weit über dem Rhein, der Lenker des Mofas befand sich nur Millimeter von der Lärmschutzwand entfernt.
Wie in Zeitlupe erreichte der Fahrer meine Höhe und setzte unbeirrt den Überholvorgang fort.
Die ganze Szenerie hätte ebensogut einem „Werner“-Film entsprungen sein können.
Auf dem kölner Ufer angekommen drehte ich eine gemütliche Runde durch Merkenich und wollte den Rückweg über die Autobahnbrücke wieder flotter angehen.
So erklomm ich rundum zufrieden den steilen Brückendamm und hatte gerade das Tempo angezogen – als es in meinem Bauch bedrohlich anfing zu gluckern.
Mit jedem Schritt schien es schlimmer zu werden.
Das Bier hatte wahrscheinlich just in diesem Augenblick den Magen passiert und war im Darm sofort eine unheilvolle Allianz mit dem Müsli eingegangen.
Abbruch!
Aber sofort musste ich zusehen dass ich nach Hause kam, denn vor meinem geistigen Auge tauchten die beschämenden Bilder unglückseeliger Langstreckenläufer auf.
(Warnung: Schwache Mägen sollten hier vielleicht nicht drauf rumdrücken!)
Nein, so möchte ich nicht enden, so darf ich nicht enden, schließlich kennt man mich in dieser Stadt.
Gut und gerne 3km trennten mich aber noch von den heimischen „Hallen der inneren Zufriedenheit“.
Mit einem Mal spannte die Laufhose so dermaßen an der Hüfte, als sei sie binnen Sekunden um 2 Nummern geschrumpft.
Krisenmanagement ist jetzt gefragt.
Sofortmaßnahme 1: Der Hüftgurt mit dem Frontlicht muss AB!
Die Lampe nahm ich in die Hand, obwohl ich sie am Liebsteb in die Fluten gefeuert hätte.
Sofortmaßnahme 2:Einen angenehmen Laufrythmus finden. Den richtigen Kompromiss zwischen Spannung und Entspannung diverser Körperpartien.
Wenigstens bin ich hier alleine auf weiter Flur.
Aber was nutzt es?
Ich habe weder Taschentücher dabei, noch gibt es nennenswertes Buschwerk auf der restlichen Strecke.
Kurz bevor ich das leverkusener Rheinufer erreichte, stampfte unter mir der grell erleuchtete Ausflugdampfer „Stadt Düsseldorf“ flussabwärts.
Der ist aber spät dran.
Oder schauen sich die Düsseldorfer Köln nur bei Nacht an?!
Ich befand mich die ganze Zeit auf der nördlichen Brückenseite und konnte demnach den Rhein nur flussabwärts überblicken.
Das änderte sich schlagartig, nachdem ich die Ausläufer des Neulandparks erreichte.
Mich traf fast der Pfefferminzschlag!
Ausflugs- und Besichtigungsschiffe drängelten sich dicht an dich um den leverkusener Anleger „Wacht am Rhein“.
Kaum hatte ein Boot die Leinen losgemacht, quirlte bereits das Nächste heran und spukte kurz darauf Horden von Menschen ans Ufer.
„Oh. Mein. Gott.“, schoss es mir durch Kopf und Eingeweide, „Kölner Lichter, das Höhenfeuerwerk über dem Rhein“.
Es hilft ja alles nichts: Mir läuft die Zeit davon!
Ich holperte mit verkniffenen Gesicht und Backen auf die Massen zu, wedelte wild mit der Lampe vor den Füßen der unzähligen Passanten herum und versuchte dabei freudlich zu bleiben.
Wenn ich nicht sofort weniger dicht besiedeltes Gebiet erreiche, gibt es ein Unglück!
In mir braut sich eine Mischung an, gegen die Ypern 1915 der reinste Luftkurort gewesen wäre.
Im wilden Slalom hechtete ich, die linke Hand bereits zur Schmerzlinderung auf den Bauch gelegt zwischen Rentnern und Bussen querfeldein zuerst über den Parkplatz, später einen Spielplatz und schließlich die Minigolfanlage.
„StrongdarmRun 2011“, aber ohne Kompromisse!
Den Heimweg hatte ich dadurch um wertvolle 300m abgekürzt als ich wieder auf dem Fussgängerweg einbog.
Vor mir tauchte jedoch abermals Fussvolk auf.
Mit Zigarette.
Kippe weg, Opi! Wenn das Feuer fängt!
Hier rollt eine Bombe über die Straße: Ich könnte mittlerweile aus dem Stehgreif die Hindenburg befüllen.
Ein Funke und Leverkusen mitsamt Umgebung hauts aus den Geschichtsbüchern.

Kurzerhand überholte ich diese letzte Passantengruppe im Grünstreifen, bis ich schließlich meine Haustür erreichte, mir noch auf den Treppenstufen zur Wohnung den iPod sowie die Klamotten vom Leibe riss und…

So, nun ist es raus: Wieder einmal Glück gehabt!

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