„Heut ist einer jener Tage…“

Dienstag, 9. August

Hektik, Stress und Stress und Hektik!
Es war kurz vor 20 Uhr, als ich endlich zu Hause eintraf. Direkt nach der Arbeit hatte ich nur kurz die Tasche in die Ecke gefeuert, den bereitgelegten Anzug samt Hose gegriffen und schon eilte ich zum örtlichen Edel-Modehaus, vor dem Wieselchen bereits wartete.
Wir hatten uns zum Shoppen verabredet. Kasi wollte sich ein neues Hemd und eine passende Kravatte zulegen, denn am Wochenende bin ich zu einer Hochzeitsfeier in Trier eingeladen und da will ich schließlich eine möglichst gute Figur machen.
Nachdem ich die Verkäuferin eindrucksvoll von meinem Unwissen bezüglich 1/1 Ärmel, 1/2 Ärmel und die entsprechenden Auswirkungen auf die Farbe des Hemdes überzeugte (Herbstmode, Sommermode…pfft!), fanden wir schließlich doch noch eine echt schicke Farbkombination.
Die Frage der Mitarbeiterin, ob sie den doppelten Windsor gleich in der Kravatte lassen sollte, hatte für sie wahrscheinlich nur noch rethorischen Charakter.
Ich kann den auch!
… es dauert halt nur ein paar Stunden länger als bei ihr, bis es sitzt.
Danach begaben wir uns noch auf die Suche nach einem Kleid für Wieselchen, wobei ich sie natürlich (stolz wie Bolle „dank“ des frisch angelernten Modefachwissens) beriet.

Zum Abschluss des Abends gönnten wir uns je ein Heißgetränk in der örtlichen Niederlassung einer Heißgetränkegroßkette.
Für mich gabs dort wie gewöhnlich einen „Sweet Chai Tea Latte Venti“, danach trennten sich unsere Wege leider schon wieder.

Jetzt war es also 20 Uhr und ich saß frisch mit Tee abgefüllt auf meiner Couch.
So richtig Lust hatte ich ehrlich gesagt nicht aufs Training, zumal gestern die erste, richtige Studioeinheit nach dem neuen Plan stattgefunden hatte.
Aber wat mudd, dat mudd – Heute ist schließlich Regenerationslauf angesagt und wenns sein muss regeneriere ich bis die Füße bluten!
So sprengte ich mich trotz leichter Unlust in meine Laufsachen, band mir die Jacke um und stöpselte den Mp3-Player ein.
Die Lust würde schon beim Laufen kommen, dachte ich mir. Wäre ja schließlich nicht das erste Mal, dass es so ist.
Das Wetter auf der anderen Seite der Fensterscheibe war jedenfalls schonmal sehr kurios; ein erster Vorbote auf den Herbst.
Die Straßen und Wege waren noch nass von den Regenschauern, wenn die Sonne einmal kurz durch die tiefhängenden Wolken stach, wurde es direkt brechend warm. Ansonsten litt die gefühlte Temperatur aber eindeutig unter den starken Windböhen.

Am Rhein angekommen riss die Sonne mit langen, honiggelben Armen die tiefhängende Wolkendecke auseinander. Im Osten dagegen glänzte bereits kühles Blau am Horizont.
Für einen Augenblick hielt ich inne und ließ dieses Schauspiel auf mich wirken.
Golden schimmerte der Fluss im Licht des nahenden Sonnenunterganges, die Autobahnbrücke warf einen schwarzen Schlagschatten als harten Kontrast.

Mich trieb es den Radweg hinab auf Uferniveau und endlang des Stromes.
Mit jedem Schritt, den ich nordwärts lief, nahmen die Sonnenstrahlen andere, neue Formen an.
Mit jeder Minute, die der Sonnenuntergang näher rückte, mischte sich mehr Blau und Rot in ihr Farbspiel.

Aus den Ohrhörern umplätscherten mich sanftes Schlagzeug und dezente E-Gitarren, nur hin und wieder von Textzeilen untermalt.

"...ich träum' von Möwen, von Schiffen im Hafen.
Von windschiefen Bäumen und stern'klaren Nächten.
Fremden Gerüchen und fernem Gelächter..."

Mit diesen Eindrücken bog ich ab auf einen komplett von Baumwerk überdachten Teil des Radweges.
Schlagartig wurde es dunkler und erfrischend kühl. Mein Lauftempo hielt sich -Regenerationslauftypisch- in Grenzen; auf die GPS-Uhr schaute ich gar nicht mehr.
Langsam tänzelte mir das Ende dieses Wegabschnittes als heller, sonnengefluteter Lichtpunkt, entgegen.
Bis ich ihn erreichte, würde es jedoch noch ein Weilchen dauern.
Soll mir recht sein. Die feuchtkühle und von den Pflanzen am Wegesrand süß aromatisierte Luft war mir eine willkommene Abkühlung.

Als die Baumkronen über mir endeten, umflutete mich das Sonnenlicht so plötzlich und warm als habe jemand einen gigantischen Scheinwerfer auf mich gerichtet.
Jedoch leuchteten die Wolken nun schon in einem deutlich satteren Gelbton und die einzelnen Strahlen stießen bereits merklich flacher durch die Wolkenlücken.
Die Ponton-Brücke kam in Sicht, mein Weg führte mich nun in Richtung Osten, entlang der Wupper.
Vor mir am Himmel breiteten sich purpurne Wolkenfetzen auf blauem Himmel aus. Mein Schatten lag wie eine langezogene Karsten-schablone vor mir auf dem Weg.

Mittlerweile war der Mp3-Player schon mehrere Lieder weiter gesprungen, und ein weiterer, altbekannter Refrain, von wuchtigen Streichern untermalt, weckte Erinnerungen an eine nicht sehr ferne Vergangenheit, als das Laufen viel mehr für mich darstellte, als „nur“ ein Wettkampfhobby.

"...du kennst eine Insel, die auf keiner Karte steht,
und dort liegt dein Haus in den Dünen.
Heut' Nacht wirst du geh'n, denn von dort...
...kann man fast das Meer seh'n..."

Ich blickte auf meine Füße und die Gedanken begannen zu arbeiten.
Eis knirscht unter den Schuhsohlen, das Licht hat einen stahlblauen Teint angenommen. Atem kondensiert vor meinem Mund, die Welt um mich erstarrt in Kälte.
Diese Erinnerungen kommen mir so unwirklich vor.
Das kann doch unmöglich alles erst 9 Monate her sein?
Kaum zu glauben, dass dies der selbe Weg und der selbe Läufer sind
– und irgendwie sind sie es auch nicht.

Die Percussion des nächsten Liedes zerrte mich zurück in das Hier und Jetzt.

"...in der leeren Straßenbahn, saß sie plötzlich da:
Walkman hörend, ungeschickt geschminkt.
Und er hätte nie gedacht, dass an so einem Tag
sein Leben neu beginnt..."

Ich zog das Tempo an, wie jedesmal wenn dieses Lied läuft und verließ schon bald die Wupper, um in die Waldweg-Landschaft zwischen Bürrig und Rheindorf einzutauchen.
Die Gelbtöne waren nun fast vollständig aus dem Sonnenlicht verschwunden. Blau, Rot und ihre Kombinationen hatten die Herrschaft übernommen.
Getragen von der Musik und einer vollständigen, inneren Zufriedenheit, schwebte ich im Halbschatten der Bäume am Gut Reuschenberg vorbei und entlang des Mühlbaches auf die Dhünn zu.
Am Ende des Dammes bog ich ab auf meine City-Trail-Strecke, wie es wohl im Neudeutsch so schön heißt. Zu Dutzenden stoben vor mir die Kaninchen aus dem knöchelhohen Gras hervor, schlugen ein paar Haken – und verschwanden direkt im nächstgelegenen Unterholz.
Der Weg vor mir war mit großen Pfützen gespickt.
Spiegelglatt lagen sie im dunklen Zwielicht neben dem Straßendamm, umrahmt von groben, grauen Schottersteinen.
Aber in ihnen spiegelte sich ein grellrotes Feuerwerk aus Wolken, Sonne und Himmel.
Was für ein Bild!
Welch‘ ein Motiv für ein Bild…
Spiegel sind die Tore in eine andere Welt.

"...nur rund um uns wirds still,
Wir brauchen nichts zu sagen: Gib Wundern keinen Namen,
Sie verschwinden vor den Augen, wenn man zuviel drüber spricht!
wenn man zuviel drüber spricht..."

Der große DJ da oben hat heute tatsächlich ein bemerkenswertes Timing!
Nur schwer kann ich mich losreißen und weiter laufen.
Nach einigen Kurven geht es für mich nun wieder gen Süden. Der Sonnenuntergang liegt für mich kaum sichtbar schräg hinter mir.
Vor mir breitet sich bereits die Nacht aus, der Himmel zeigt sich in dunkelstem Blau, Sterne sind aber keine zu erkennen.
Leverkusen ist leider eine weitesgehend sternfreie Stadt: Zuviel Lichtemission durch die ansässige Industrie.

Über meinen Lieblingsabschnitt, der 10cm breiten Laufschneise im grasbewachsenen Dhünnufer, strebe ich meiner Wohnung entgegen.
Kurz vor Erreichen des asphaltierten Auslaufkilometers singt es mir aus den Ohrhörern entgegen:

"Heut ist einer jener Tage,
an denen jeder Windzug vage,
eine Ahnung trägt,
warum die Welt sich dreht."

Dem ist nichts hinzu zu fügen.


Anmerkung zum Copyright:
Alle von mir in diesem Beitrag zitierten Liedpassagen sind geistiges Eigentum von Dirk Schelpmeier

Die verwendeten Titel sind:
- "Richtung Süden" (Album: Seestücke & Weibsbilder)
- "Von dort kann man fast das Meer sehen" (Album: Seestücke & Weibsbilder)
- "An so einem Tag" (Album: Neues aus Bentrup)
- "Still" (Album: Neues aus Bentrup)
- "Wo die Schiffe sind" (Album: Seestücke & Weibsbilder)

Dieser Beitrag wurde unter Classics, Training veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.