25 Jahre „Reißverschluss“ – Ein Jubiläum

Vorweg zur Info:
Den folgenden Bericht habe ich vor einiger Zeit (2010) aus dem Gedächnis verfasst. Dies sind meine Erinnerungen, so habe ich es erlebt. Ob sich die einzelnen Dinge auch haargenau so abgespielt haben vermag ich nicht mehr zu garantieren.

24.03.1989 – Karfreitag

Drei Rennradfahrer preschen in Schussfahrt einen Feldweg nahe der deutsch-französischen Grenze hinab.
An der Spitze mein Bruder auf seinem blauen Geschoss, dicht gefolgt von mir und meinem mattsilbernen Rad. Etwas abseits, aber nicht minder schnell, unser Vater.
Der Straßenbelag, sofern man diesen Weg Straße nennen kann, besteht aus Asphalt und Rollsplitt. Kein sonderlich angenehmer Untergrund, aber auch kein unlösbares Problem. Der 50km/h-Marke deutlich näher als der 40er, trennen unsere Laufräder nur wenige Zentimeter.
Da bemerke ich wie sich Paps langsam in mein Sichtfeld vorarbeitet und schließlich auch meinen Bruder überholt.
Wie ich später erfuhr, wollte er uns etwas abbremsen, da weiter vorne ein Bordstein quer über den Weg verlief.
Damals jedoch deutete ich sein Tempo als Herausforderung.
Die Hände an den Bremshebeln entspannten sich, obwohl wir uns noch in einer langen rechtskurve befanden.
Schnell, sehr schnell, nehme ich weiter Fahrt auf. Das Hinterrad meines Bruders ist nun beängstigend nahe, da er sein Tempo gehalten hat. Ich gebe einen Tip nach rechts, keinen Augenblick zu früh, denn schon befinden sich beide Radnaben auf einer Höhe, sein hinterer Umwerfer nur Millimeter von meinem vorderen Schnellspanner entfernt.
Das ist zu nahe, viel zu nahe.
Ich befinde mich im absolut toten Winkel meines Bruders, er hat keine Ahnung in welche Situation ich uns beide manövriert habe – als er seine Spur leicht nach rechts korrigiert ziehe ich beide Bremshebel voll durch…
Für den Bruchzteil einer Sekunde geschieht nichts, kurz denke ich meine Bremsen seien defekt.

Mit einem Male schießt mein Bruder mit seinem Rad wie von einem Katapult gezogen nach vorne weg, entfernt sich rasend schnell von mir weg.
Mein Vorderrad blockiert, droht seitlich weg zu rutschen und obwohl ich mich voll in den Lenker stemme, drückt mich die Massenträgheit aus dem Sattel, genau der Lenkstange entgegen.
Das Rad meines Bruders hebt ab, verschwindet in Zeitlupe nach oben aus aus meinem Blickfeld. Habe ich ihn etwa touchiert?!
Langsam schiebt sich von unten eine graue Fläche vor meine Augen.
Für einen Moment sehe ich nur Asphalt – mein Bike stand zu diesem Zeitpunkt nahezu senkrecht auf dem Vorderrad.
Ich reiße die Hände zum Schutz vor das Gesicht, löse dadurch die blockierte Vordertbremse und jage einige Meter nur auf dem Vorderrad die Straße hinab, bis es schließlich umschlägt und mir den Lenker mit unglaublicher Wucht in den Bauch rammt.
Wie in Zeilupe falle ich jetzt dem grauschwarzen Boden entgegen.
Alles war nahezu lautos von statten gegangen, als ob jemand den Ton abgestellt hatte.
Dies ändert sich jetzt schlagartig.
Zuerst ist da ein ekelhaftes Knirschen als ich in den Rollsplitt eingeschlage, die Hände und Arme noch immer schützend vor dem Gewicht.
Als das Kinn aufkommt, dröhnt ein seltsam hallendes Geräusch in mir auf, vergleichbar dem eines Plastikfussballes, den man immer und immer wieder wie wild auf einen Steinboden drischt. Mein Unterbauch wird noch fester in den Lenker gedrückt, die Beine stehen fast senkrecht vom Boden ab, meine Füße in den hinteren Speichen verklemmt.
Dann bricht um mich herum ein Höllengetöse los.
Widerlich scheuernd, metallisch dröhnend, heult und klagt mein Rad laut auf, als es, und somit auch ich selbst, schließlich der Länge nach auf dem Boden aufschlagen.
Kopf voran rutsche ich noch viele Meter in meinem Aluknäuel verkeilt den Hang hinab. Arme, Kinn, Beine bis aufs Fleisch aufscheuernd.

Ich sehe nur Boden, ganz nah vor mir.
Viele, viele kleine Rollsplittsteine umgeben mich. Und etwas Gras.
Eine Graskuhle – Der Straßengraben?
Was ist passiert?
Warum liege ich auf dem Boden?
Unendlich weiter hinten und bereits verschwommen sehe ich Ingo
und Paps auf ihren Rädern.
Mir ist warm, Schweiß dringt aus allen Poren. Deutlich rieche ich die Steine, das Gras, alles um mich herum.
Es ist so endlos lange still.
Kein einziges Geräusch nehme ich wahr.
Absolute Stille.
Minuten, nein, Stunden vergehen, es sind wohl aber nicht einmal wenige Sekunden gewesen.
„Bin ich etwa gestürzt?“
Mein Blick fixiert etwas rotes vor mir.
Es bewegt sich.
Langsam und vorsichtig wiegt es sich auf dem Asphalt, nimmt dabei Dreck und Split in sich auf.
„Ich muss wohl gestürzt sein!“
Ich liege noch immer da, blicke jetzt aber langsam über meine blutige Hand hinweg in die Ferne, den Beiden Rädern hinterher.
„Die haben nichts gemerkt!“, ist mein einziger Gedanke, „Die fahren weiter!“, meine größte Angst.
Ich muss mich bemerkbar machen.
Es ist so still, kein Laut zu hören.
Ein gellender Schrei dringt an mein Ohr, bringt mich wieder zurück ins Hier und Jetzt…
„Oh je, wer schreit denn hier so?!“, denke ich tatsächlich noch, dann erkenne ich: Ich bin es selbst, dessen Schreie schrill und verzerrt die idyllische Landschaft aufschrecken.
Die Räder hatten längst angehalten und kehrt gemacht.
Paps schält mich vorsichtig aus den Resten meines Rennrades, meine Hände, Arme, Oberschenkel, das Kinn sind nur noch rote, brennende Flächen mit unzähligen schwarzen Rollsplittpunkten versehen.
Warm, nein, heiß; mein Körper glüht förmlich.
Arme und Beine stehen in Flammen, mein Kinn scheint zu schmelzen, löst sich komplett in warmen Wogen auf.
Es fühlt sich an, als läuft das gesamte Kinn langsam meinen Hals hinab.
Als ich aufstehen will reißt es in mir. Ein nie erlebter Schmerz zwingt mich in die Knie, mein Atem stockt, die Schreie lassen nach.
„Wer schreit denn hier so? Bin ich das etwa?“
Nur wenn ich mich nach vorne beuge, einen Arm in den Bauch stemme, ist es einigermaßen erträglich.
Das Atmen schmerzt.
Ich höre auf zu atmen, es tut so weh.
Schwindelig… hinsetzen… alles ok, mir geht es gut… ich muss mich nur kurz…
Ich sitze im Graben.
Flach atmen, ganz flach.
Dann tut es nicht so weh… warum sitze ich im Graben?
Ingo hockt neben mir, besorgt mustert er mich, dreht vorsichtig meine Arme in seinen Händen.
Ich schaue ihm fasziniert dabei zu.
Was ist an meinen Armen denn auf einmal so interessant?
Warum haben wir überhaupt schon wieder angehalten?
Haben wir nicht erst vor wenigen Kilometern eine Pause an einem Felsdach gemacht?
Doch haben wir!
Es gab Lyoner, Roi de Trefle und Brötchen vom Aldi. Dazu Schorle und Obst.
Warum ist denn hier alles so nass?
Meine Hände triefen ja schon.
Regen so kurz vor dem Ziel, das ist Pech!

Paps unterhält sich mit zwei Beinen, die plötzlich angerannt kamen.
Da liegt mein Rad!
Oh nein, die Kette ist abgesprungen, so kann ich ja gar nicht weiter fahren!
Wir müssen doch noch runter zum Auto fahren.
Ich will zu meinem Rad, es aufheben.
Keine Kraft in den Beinen.
Ingo drückt mich zurück ins Gras.
Warum tut er sowas?
Luft, atmen… mein Bauch tut so weh, ich atme flach, dann tut es nicht so weh.
Ist ein LKW über mein Rad gefahren?
Langsam lehne ich mich in meinen Graben zurück.
Ingo hat recht, so ist es viel besser.
Es tut auch gar nicht mehr so weh.
Nicht, wenn ich ganz flach atme.
Mein Mund ist mit Alufolie gefüllt, jedenfalls schmeckt es nach Metall.
Paps und die Beine drehen sich kurz zu mir. Die Beine sprechen eine lustige Mischung aus Deutsch und Französisch.
Ruhig lasse ich meinen Blick von links nach rechts schweifen, kaue dabei Alufolie.
Wann fahren wir denn weiter?
Worauf warten wir eigentlich?
Ich atme flach, das tut nämlich nicht so weh.
Warum tut mir alles weh?
Ingo hat ja ganz blutige Hände!
Die Beine mit dem lustigen Deutsch sind plötzlich weg, wo sind sie denn jetzt hin?
Ah… mir wird so schlecht…flach atmen, was riecht denn hier so? Überall riecht es nach Alufolie, ich habe Alufolie im Mund.
Ich spucke sie aus.
Rote Alufolie.
Mir ist so schlecht, nur kurz die Augen schließen, etwas schlafen.
Kaum schließen sich die Lider, da dreht sich alles in mir und um mich herum. Ich stecke in einer übergroßen Wäscheschleuder, rotiere tausendfach um meinen eigenen Körper, während die gesamte Welt um mich rotiert.
Ich öffne wieder meine Augen, die Drehung stoppt abrupt, mir ist plötzlich so schlecht geworden.
Vor mir steht ein Auto.
Ein Mercedes!
Die hintere rechte Tür ist geöffnet.
Die Beine und Vater legen mich auf die Rückbank, Ingo steigt nicht ein.
Er hat auch blutige Hände, er würde alles dreckig machen.
Noch nie bin ich in einem Mercedes gefahren!
Schwarzes Leder.
Bah, stinkt wie rotes Aluminium.

Die Beine fahren Paps und mich ins Tal zu unserem Auto, Ingo folgt mit seinem Rad. Danach fährt Paps mit dem Mann, dem die Beine gehören, wieder hoch und holt die beiden anderen Räder.
Ingo bleibt bei mir…

Ich liege auf der Rückbank unseres Ford Escort, das Gesicht meines Bruders schwebt über mir.
Wo ist der Mercedes denn hin?
Draußen an den Fenstern sehe ich Papas Bauch.
Lustig sieht das aus, wie er sich an den scheiben platt drückt.
Als Paps die Räder auf dem Dach verstaut hat, fragt er mich noch, ob ich ins Krankenhaus will, oder ob es nicht so schlimm ist.
Wieso fragt er mich das? Ingo hat doch blutige Hände!

Ich weiß nicht mehr was oder ob ich überhaupt geantwortet habe, während der Fahrt werde ich bewusstlos.

Ich sitze auf einem Stuhl.
Der Stuhl befindet sich auf einem Gang.
Wo sich der Gang befindet weiß ich nicht.
Hier riecht es so komisch. Nicht nach Aluminium, eher nach…
Ich weiß es nicht.
Vor mir kniet eine Frau in weißen Sachen und schaut mit angespannten Gesicht auf einen komischen Pinsel, während sie meine Knie und Beine mit rotbrauner Farbe anmalert.
Das sieht ja lustig aus!
Als sie bemerkt, dass ich sie beobachte, lächelt sie mich an, malert dann aber konzentriert weiter.
Ich schaue ihr dabei zu, dann fällt mir auf, dass meine Hosen und das Hemd dreckig und kaputt sind.
Mami wird mich sicherlich schimpfen!

Die Frau lächelt mich wieder an, tupft jetzt vorsichtig über meine Hände. Wo sie mit ihrem seltsamen Pinsel meine Haut berührt, brennt es kurz auf.
Warum ist ihre Farbe denn so heiß?
Aber es tut nicht weh und es sieht lustig aus.
Wie ein Indianer.

Wie komme ich denn in dieses Gestell?
Und wo ist der Stuhl und der Gang?
Was sind das für Geräte und warum habe ich ein so großes Hemd am?
Alle verlassen den Raum, das Gestell rotiert laut um mich herum, bleibt dann stehen. Die Leute kommen wieder rein.

„Welches ist denn deine Lieblingsfarbe?“
Ich liege auf einem harten Bett mit Papierbezug.
Neben mir ein kleiner Fernseher und viele bunte Ketchupflaschen auf einem Wägelchen.
Ich mustere sie der Reihe nach.
Was will der Mann von mir?
„Wie wäre es mit… gelb? Magst du gelb?“, fragt der Mann und greift bereits nach einer der Flaschen.
Etwas sehr kaltes, glibberiges habe ich jetzt auf dem Bauch.
Ich neige den Kopf, um auf meinen Bauch blicken zu können. Er ist ja ganz gelb.
Ganz leicht berührt mein Kinn den Hals und es beginnt wieder zu schmilzen.
Ich lasse den Kopf auf das Papiertuch sinken und schaue auf den kleinen Fernseher.
Schwarzweißes Rauschen…
Der Mann drückt mir ein Plastikstück tief in den Bauch.
Das tut weh, eben tat es nicht weh!
Warum macht er das?
Ich will nicht, dass es weh tut.
Wo bin ich überhaupt, ich will nach Hause!
Auf dem Fernseher wandern helle Schlieren und Schemen durch die Schwärze.
Die Stirn des Mannes ist in tiefe Falten gelegt.
„Da ist eine Flüssigkeit im Bauch, die da nicht hingehört, aber keines der Organe scheint verletzt.“
Was bedeutet das!?

Ingo und Paps stehen neben mir am Bett.
Ingo hält mir ein selbst gebautes Lego-Technik-Auto entgegen.
Seine Hände bluten ja gar nicht mehr.
Ich will mich aufsetzen, darf aber nicht.
Kann nicht.
Ein großes Pflaster bedeckt meinen gesamten Bauch, ein Schlauch kommt aus meiner Hüfte und verschwindet unter dem Bett, ein anderer Schlauch kommt von weit oben und endet in meiner Hand. Ich traue mich nicht sie zu bewegen.
Sicher ist sicher.
Alles kribbelt, aber es tut nicht mehr weh…

Erst viele Jahre später erfuhr ich:
Alle Verletzungen waren tatsächlich nur oberflächlich. Eine Nacht zur Beobachtung sollte ausreichend sein, denn auch der Bauch wies keinerlei blaue Flecken oder andere Merkmale einer inneren Verletzung auf – ‚Dank‘ des gerundeten Rennradlenkers, wie sich später herausstellen sollte.
Am nächsten Morgen war die Bauchdecke steinhart, sicheres Zeichen einer inneren Verletzung, das Ultraschall brachte jedoch keine Klarheit.
„Da ist eine Flüssigkeit im Bauch, die da nicht hingehört, aber keines der Organe scheint verletzt.“, diesen Satz höre ich heute noch. Die ‚kleine OP zur Abklärung‘ wandelte sich zu einer Not-OP in deren Verlauf meine gesamte Bauchhöhle ausgeräumt und vom Blut gereingt wurde. Das verletzte Organ war die Milz, ganz versteckt im hintersten Eck gelegen. Sie konnte geklebt und erhalten werden.

Was habe ich nach 25 Jahren davon behalten?
Äußerlich eine relativ große und relativ schlecht verheilte Narbe über den gesamten Bauch, scherzhaft mein „Reißverschluss“ getauft.
Mittlerweile ebenfalls ein Tattoo am rechten Oberarm, eine Dornenranke in Anlehnung an den Karfreitag – obwohl ich mich eher als nicht gläubig bezeichnen würde.

Aber allem die abgedroschene Erkenntnis: Jeder Tag kann dein Letzter sein.

Euer Karsten

PS: Und am 17.07.2015 erzähle ich euch dann, wie das mit dem Rennrad, dem Bordstein, der Bushaltestelle und Telefonzelle in Neuss war…

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Classics, Training veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.